Literarische Fachtagung widmete sich der Prager Moderne

Collage: Einladung zur Fachtagung Prag im Spiegel der Prager Literatur der Moderne

Zwischen ca. 1880/90 und 1920/30 war Prag ein Zentrum der deutschen Literatur der Moderne. Federführend waren die Schriftsteller und Künstler, die Max Brod, eine zentrale Figur der Szene, im Abstand von drei Jahrzehnten rückblickend als „Prager Kreis“ bezeichnete. Prag war zu dieser Zeit aber ebenso ein Zentrum der tschechischen Literatur der Moderne. Die weltoffene kulturelle Metropole an der Moldau galt als pulsierende Stätte reger persönlicher Kontakte und eines produktiven künstlerischen Austausches zwischen tschechischen und deutsch-österreichischen Schriftstellern und Künstlern.

Die literatur- und kulturgeschichtlichen Koordinaten des literarischen Lebens in Prag in dem halben Jahrhundert um 1900 sind inzwischen von der deutschen wie von der tschechischen Forschung gut vermessen. Nichtsdestotrotz sind viele literarische Werke, die in Prag entstanden oder von der Stadt und ihrem interkulturellen Leben unmittelbar inspiriert wurden, heute oft nur noch Fachleuten vertraut.

An dieser Stelle setzte die internationale Fachtagung „Prag im Spiegel der Literatur der Prager Moderne“ an. Vom 20. bis 22. Oktober 2021 kamen im Heiligenhof in Bad Kissingen Referentinnen und Referenten, Teilnehmer und Teilnehmerinnen zusammen, um gezielt Werke einzelner Autorinnen und Autoren (wieder) in den Blick zu rücken, die zwischen 1880 und 1930 nicht nur – wenigstens zeitweise – in Prag lebten und schrieben, sondern auch und vor allem über Prag schrieben. Autorinnen und Autoren also, die sich und ihr Schreiben in Prag eingerichtet haben und denen die Stadt, die ebenso reich an kulturellen Erinnerungsorten wie an Geschichten ist, dafür Mikro- und Makrokosmos zugleich war.

Foto: Dr. Kathleen Beger am Rednerpult
Dr. Kathleen Beger, wissenschaftliche Referentin der Kulturstiftung, eröffnete die Tagung

Zunächst begrüßte Dr. Kathleen Beger, wissenschaftliche Referentin für Geschichte, Staats- und Völkerrecht sowie Literatur bei der Kulturstiftung, die Referentinnen und Referenten, Teilnehmer und Teilnehmerinnen und stellte das Tagungsprogramm vor. Anschließend hielten Thomas Konhäuser, Geschäftsführer der Kulturstiftung, und Reinfried Vogler, Vorstandsvorsitzender der Kulturstiftung, Grußworte. Thomas Konhäuser machte deutlich, dass es zur Aufgabe der Kulturstiftung gehört, das deutsche kulturelle Erbe im östlichen Europa wachzuhalten und Wissenschaft und Öffentlichkeit zusammenzuführen. Reinfried Vogler ergänzte, dass dabei auch weniger bekannte Themen vertieft werden. Moderiert wurde die Tagung von Dr. Kathleen Beger und Prof. Dr. Axel Walter.

Zum Auftakt hielt Prof. Dr. Axel Walter (Universität Vilnius und Eutiner Landesbibliothek) einen Einführungsvortrag mit dem Titel „Prager Erzählungen: Themen – Motive – (Selbst-)Narrative“. Am Beispiel der literarischen Werke der Autoren Jan Neruda, Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Oskar Wiener, Leo Perutz und Karel Poláček zeigte er auf, dass Prag um 1900 ein Experimentierfeld der Moderne und zugleich ein Ort des kulturellen Transfers zwischen deutschen und tschechischen Intellektuellen war – zwei Seiten, auf denen sich jeweils auch Vertreter jüdischen Glaubens befanden. Die Literatur Prags unterteilte Prof. Walter in drei Blöcke. Der erste umfasste sozialkritische Literatur, die stärker in der tschechisch- als in der deutschsprachigen Literatur anzutreffen ist. Zum zweiten Block zählte er historische Romane und zum dritten das jüdische Prag, für das das rudolfinische Prag den literarischen Rahmen bot. Zugleich ordnete Prof. Walter Raum und Zeit – sprich: Prag in den Jahrzehnten zwischen 1880 und 1930 – historisch, geografisch und kulturell ein und ging dabei auf politische Veränderungen und stadtgeschichtliche Umwälzungen ein, die sich letztlich auch in den literarischen Texten der genannten Autoren widerspiegelten. Aus seiner Einführung ging hervor, dass es kein homogenes literarisches Prag gab, sondern ein großer Facettenreichtum herrschte, dessen Räume und Zwischenräume im Laufe der Zeit immer wieder neu ausgehandelt wurden.

Den Abschluss des ersten Tagungstages bildete die Vorführung des Films „Lenka Reinerová – Prags letzte deutsche Autorin“ (2007, Regie: Frank Gutermuth), den Prof. Dr. Viera Glosíková (Karls-Universität Prag) vorstellte und Einblicke in das Leben und Wirken von Lenka Reinerová gab.

Foto: Prof. Dr. Viera Glosíková bei der Vorstellung des Films über Lenka Reinerová
Prof. Dr. Viera Glosíková stellte Lenka Reinerová und Auguste Hauschners Werk vor

Der zweite Tagungstag begann mit einem Vortrag von Prof. Dr. Viera Glosíková (Karls-Universität Prag) über drei Prager Romane von Auguste Hauschner. Dass die Autorin weitgehend vergessen ist, hängt Prof. Glosíková zufolge auch damit zusammen, dass bis heute keine tschechischsprachige Übersetzung ihrer Werke vorliegt. Hauschner stammte aus einer wohlhabenden deutsch-jüdischen Prager Familie. Sie verließ ihre Heimatstadt aufgrund einer Eheschließung im Alter von 21 Jahren und siedelte nach Berlin über. Mit Prag blieb sie aber zeitlebens eng verbunden. Die Moldaumetropole ist in ihren drei Romanen „Die Familie Lowositz“ (1908), „Rudolf und Camilla“ (1910) sowie „Der Tod des Löwen“ (1916) nicht nur ein zufälliger Hintergrund, sondern wird als konkreter Ort dargestellt, an dem drei Kulturen und ihre Träger – Deutsche, Tschechen und Juden – in den 1870er und 1880er Jahren nebeneinander, oft auch gegeneinander und nur ab und zu miteinander leben und koexistieren. Zudem brechen die Romane bestehende Tabus auf und wirken psychologisierend. Sie kritisieren die damals vorherrschende Lieblosigkeit und das Unterdrücken von Gefühlen. Stattdessen schildern sie erotische Wünsche und greifen Themen, Aspekte und Fragen der Sexualität auf. „Rudolf und Camilla“ setzt sich darüber hinaus mit dem Begriff der Heimat auseinander und verdeutlicht, dass „Heimat“ nicht nur territorial gebunden sein muss, sondern auch eine zeitliche Dimension besitzt. Deutlich wird dies anhand der politischen Umbrüche und gesellschaftlichen Veränderungen der Moderne, die eine neue Welt mit sich bringen und eine neue Ära einleiten. Als die Habsburger Monarchie 1918 ihr Ende fand, war für viele Prager unklar, ob die neu entstandene Tschechoslowakische Republik ihre Heimat sei bzw. werden könne.

Den zweiten Vortrag mit dem Titel „Metropole, Provinz und Anthropologie bei Ludwig Winder“ hielt Dr. Jost Eickmeyer (Universität Hamburg). Wie er verdeutlichte, durchzieht Winders literarisches Schaffen die Frage danach, was den Menschen ausmacht: „Sein Aufwachsen oder sein Aufbruch? Seine Erziehung oder seine Entscheidung? Sein Erfolg oder sein Scheitern? Sein Wollen oder sein Fühlen?“ Winders Romane veranschaulichen, welche Aspekte aus diesen Dichotomien den Menschen insbesondere dann formen, wenn sein Leben durch krisenhafte Umbrüche, wie es sie zwischen 1918 und 1945 in den böhmischen Provinzen und Städten gegeben hat, bestimmt wird. Die Antworten, die sich hierauf in seinem Werk finden lassen, sind mannigfaltig. In dem Roman „Die jüdische Orgel“ (1922) wird beispielsweise die Frage nach der Macht der Herkunft über den Menschen und seine mögliche Emanzipation mit dem Kontrast zwischen Land und Stadt verknüpft. In dem Roman „Die Nachgeholten Freuden“ (1927) stehen die Konsequenzen großpolitischer Veränderungen in der Provinz im Fokus, vordergründig durch die Ablösung adeliger Grundherrschaft durch bürgerliches Kapital sowie die Schaffung einer neuen Ordnung. Der Roman „Die Pflicht“ (1949, posthum) nimmt den Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Prag am 15. März 1939 zum Ausgangspunkt der Handlung und zeigt am Beispiel des Beamten Josef Rada, wie ein unscheinbarer pflichterfüllter Einzelner mit einer Wirklichkeit konfrontiert wird, vor der er am liebsten die Augen verschließen würde. Rada tauscht seine alte Pflicht, die Sorge um das Wohlergehen seiner Familie, in eine neue Pflicht gegenüber der Nation, unterstützt den Widerstand und führt seine Familie damit ins Verderben.

Anschließend referierte PD Dr. Andreas Keller (Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und Universität Potsdam) zum Thema „Urbane Intellektualität zwischen jüdischen Traditionen und habsburgischem Katholizismus: Spuren in den Werken Franz Werfels“. Der Roman „Barbara oder die Frömmigkeit“ (1929), auf dem Kellers Ausführungen weitgehend beruhten, setzt sich mit Fragen der jüdischen Identität im Zeitalter der Moderne auseinander. Die zunehmende Säkularisierung, ausgelöst durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Leistungen, führte immer stärker weg vom Glauben und den Traditionen hin zu einer modernen Weltanschauung – eine Entwicklung, von der sowohl Juden als auch Christen betroffen waren. Der Protagonist des Romans, Ferdinand R., der zu Beginn der Handlung Schüler in einem erzbischöflichen Seminar ist, wird von einem Freund überzeugt, nicht Priester, sondern Arzt zu werden. Er erlebt als Soldat den Ersten Weltkrieg und anschließend die revolutionären Unruhen in Wien. Rückhalt in dieser Zeit findet er nur in seinen Erinnerungen an Barbara, seine frühere tschechische katholische Kinderfrau, die einem naiven selbstverständlichen Gottesglauben anhängt. Werfel hat auch in anderen Texten vor der Bedrohung der Innerlichkeit des Menschen durch den rationalen und materialistischen Fortschrittsglauben gewarnt. Ihn beunruhigte die Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Nationen machtpolitisch aufstiegen und einen radikalen Realismus verfolgten, und kritisierte dabei vor allem den russischen Kollektivismus und den amerikanischen Behaviorismus, die den fantasievollen und geistigen Menschen an den „Schnüren der Pädagogik jeweils zu einer mittelmäßigen Marionette“ machten.

Foto: Prof. Dr. Fiala-Fürst am Rednerpult
Prof. Dr. Ingeborg Fiala-Fürst beschrieb die transkulturelle Dimension der Prager Moderne

Nach der Mittagspause schloss Prof. Dr. Ingeborg Fiala-Fürst (Palacký Universität Olmütz) mit einem Vortrag zum Thema „Prager deutsche Literatur transkulturell. Vermittler und Übersetzer“ an. Wie sie darlegte, spielten die Vermittler und Übersetzer zwischen der deutsch- und tschechischsprachigen Literatur eine herausragende Rolle, da Prag in der Moderne ein Ort des kulturellen Transfers war. Um diesen Zusammenhang besser zu verstehen, warf Fiala-Fürst den Blick zurück zum Anfang des 19. Jahrhunderts und skizzierte die Entstehung der tschechischen nationalen Wiedergeburt und des tschechischen nationalen Narrativs parallel zur Entwicklung der deutschsprachigen Literatur und ihrer Narrative. So zeichnete sich letztere in den 1830er Jahren einerseits durch Versuche aus, die Landeszugehörigkeit und den -patriotismus zu betonen, bearbeitete Stoffe aus der böhmischen Vergangenheit und kooperierte mit national erwachten Tschechen. Andererseits schlug sie aber auch harte Töne gegen die tschechische Nationalbewegung an, charakterisierte die Tschechen als geschichtsloses Volk und Böhmen als deutsches Land. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Errichtung des Protektorats verlief das gesamte politische und kulturelle Leben in Böhmen unter dem Diktat des einen oder anderen Narrativs bzw. in direkter Konkurrenz beider Narrative. Das Denken und Wirken der Intellektuellen muss Fiala-Fürst zufolge durch das Prisma dieser konkurrierenden Narrative betrachtet und bewertet werden. Vermittler und Übersetzer, die sich zwischen diesen beiden bewegten und meist Juden oder Vertreter des böhmischen Adels waren, sahen sich oft Anfeindungen aus beiden Lagern ausgesetzt. Zum Abschluss plädierte Fiala-Fürst dafür, drei neue Denkoperationen zur Untersuchung der Bedeutung dieser Vermittler anzustellen. Erstens sollte man es vermeiden, alle zwischennationalen Gesten als Kampfansagen gegen den Nationalismus zu werten, da hinter der Entscheidung, ein Werk zu übersetzen, auch rein pragmatische Erwägungen stehen konnten. Zweitens sollte der Kanon im Hinblick auf Zeit, Raum, Beruf und Gattung sowie in komparativ-transkultureller Hinsicht erweitert werden. Drittens sollten sich Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bei der Bearbeitung dieses Themas bewusst sein, dass sie innerhalb des Diskurses oft mit Metaphern wie „Brücke“ oder „Symbiose“ arbeiten, anhand derer sich die damalige Realität nicht wissenschaftlich beschreiben lässt.

Prof. Dr. Tomáš Glanc (Universität Zürich) widmete seinen Vortrag den „Deutsch-tschechische[n] Dimensionen des Prager linguistischen Kreises: nicht nur Friedrich Slotty, Leopold Silberstein, Pavel Eisner und Hugo Siebenschein“. Dass die deutsche Dimension des Zirkels bis heute unterrepräsentiert ist, liegt Glanc zufolge zum einen an dessen starker Personifizierung mit Roman Jakobson und zum anderen an dessen internationaler Selbstrepräsentation. Am ersten öffentlichen Auftritt des Kreises auf dem linguistischen Kongress in Den Haag 1928 nahmen nur vier Mitglieder, darunter ein Tscheche und drei Russen, teil. Nichtsdestotrotz fanden etwa 20 Prozent der Vorträge und Diskussionen auf Deutsch statt. Zudem sprachen viele Mitglieder Deutsch. Am bekanntesten war Friedrich Slotty, der zum harten Kern des Kreises gehörte und eng mit Vilém Mathesius und Roman Jakobson zusammenarbeitete. Slotty wandte sich schon früh gegen die akademische Erstarrung der eben erst etablierten strukturalistischen Schematisierungen und bestand auf der Dynamik der Sprachstrukturen – eine Auffassung, die erst bei den Neostrukturalisten nach 1945 dominierend ist. Als in den 1930er Jahren antisemitische Ressentiments zunahmen, bot der Zirkel zunächst noch einen Zufluchtsraum und eine angenehmere Atmosphäre als die Prager deutsche Universität. Emil Utitz beispielsweise verlagerte sein wissenschaftliches Schaffen gänzlich in Vereine wie den Prager linguistischen Kreis. Andere Mitglieder, die infolge der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 nach Prag emigriert waren, fanden hier ebenfalls ein neues Arbeitsumfeld. Im weiteren Verlauf der 1930er Jahre trafen im Prager linguistischen Kreis allerdings spätere NS-Kollaborateure und NS-Opfer aufeinander. Viele Mitglieder flohen vor der Okkupation und Verfolgung des NS-Regimes ins Ausland, wo sie ihre Theorien weiterentwickelten und dadurch die Ideen des Prager linguistischen Kreises in alle Welt trugen.

Foto: Dr. Alena Wagnerová mit Mikrofon am Tisch sitzend
Dr. Alena Wagnerová stellte Milena Jesenskás Lebensweg vor

Den letzten Vortrag des zweiten Tagungstages bestritt Dr. Alena Wagnerová (Saarbrücken und Prag) zur Person „Milena Jesenská – eine Journalistin im Kampf gegen Ungerechtigkeit in der Welt“. Wie sie demonstrierte, war Milena Jesenská weit mehr als die Adressatin der Briefe von Franz Kafka, und zwar nicht nur, weil er ihre Schreibweise mit der von Božena Němcová verglich, sondern auch, weil er es war, der ihre Persönlichkeit – ihre Entschlossenheit, Leidenschaft, Lieblichkeit und Klugheit – erfasste. Milena Jesenská war eine mutige Journalistin, die sich durch eine starke Emotionalität und ein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen auszeichnete. In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in ihrer Heimat mit großer Anerkennung, vor allem wegen ihres Muts und ihrer Standhaftigkeit dem NS-Regime gegenüber, über sie geschrieben. Nach 1948 war ihr Name aufgrund ihrer Kritik am Stalinismus aus dem tschechischen Kulturgedächtnis weitgehend getilgt; erst im Zuge der ersten Kafka-Konferenz in den 1960er Jahren tauchte er allmählich wieder auf. Jesenská war in Prag mit den wichtigsten Milieus der modernen mitteleuropäischen Kultur in Berührung gekommen und besuchte regelmäßig das Café Arco. Mit ihrem Mann Ernst Polak lebte sie von 1918 bis 1924 in Wien, wo sie ihr journalistisches Handwerk lernte und seit Ende 1919 für tschechische Feuilletons Reportagen über das Leben in Wien schrieb und übersetzte. 1920 erschien in der Literaturzeitschrift „Kmen“ Jesenkás Übersetzung von Kafkas Roman „Der Heizer“. Des Weiteren übersetzte sie Prosatexte von Autoren wie Henry Barbusse, Jonathan Swift, Maxim Gorki oder Robert L. Stevenson. Für die Zeitschrift „Tribuna“ verfasste sie eine Reihe an Reportagen über Wien unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Monarchie. Dabei kontrastierte sie das soziale Elend, insbesondere der Kinder in den Vorstädten, mit der privilegierten Situation der Neureichen. Außerdem schrieb sie für „Tribuna“ Modeartikel, mit denen sie den modernen Lebensstil einer selbstständigen, gleichzeitig aber auch eleganten und praktisch angezogenen Frau propagierte. 1923 endete ihre Ehe, sie zog zurück nach Prag und begann für „Národni listy“ zu arbeiten, wo sie den Posten als Chefredakteurin für die Frauenseite erhielt, nun aber weniger über Mode, denn über das moderne Wohnen und Leben schrieb. In den 1930er Jahren trat sie der Kommunistischen Partei bei und verfasste für „Přítomnost“ eine Reportage über die Not der Flüchtlinge aus NS-Deutschland. Ab 1938 widmete sie sich verstärkt der Sudetenfrage und schrieb mehrere Artikel hierüber in „Přítomnost“, bis die Zeitschrift schließlich verboten wurde. Milena Jesenská, die im Widerstand aktiv war, wurde festgenommen und verhört, saß zunächst im Gefängnis in Dresden und wurde schließlich ins KZ Ravensbrück überführt, wo sie im Mai 1944 an den Folgen einer Operation verstarb.

Der dritte Tagungstag begann mit einem Vortrag von Dr. Zuzana Jürgens (Adalbert Stifter Verein) zum Thema „Oben und unten. Julius Zeyer und Paul Leppin und ihre Prager Texte“. Im Fokus stand zunächst die Legende „Inultus“ von Julius Zeyer, die 1892 erschienen ist und die Schlacht am Weißen Berg 1620 zum Ausgangspunkt hat. Den Einstieg bildet die nationale Katastrophe, die Niederlage der böhmischen Stände, die eine Rekatholisierung und Germanisierung durch die Habsburger Monarchie zur Folge hatte. Der junge Inultus, ein Prager Bettler, verkörpert das Leiden seines Volkes und erinnert in seiner Erscheinung an Jesus. Auf der Karlsbrücke begegnet er Donna Flavia, einer italienischen Bildhauerin, die in einem Haus auf der Kleinseite unterhalb des Hradschin inmitten der Paläste lebt. Sie hat den Auftrag, ein Kreuz mit dem sterbenden Jesus für eine private Kapelle zu schaffen, wofür Inultus ihr Modell stehen soll. Auch wenn Zeyer hier einen historischen Stoff verarbeitet, sind die Hauptthemen seiner Legende der Glaubensverlust und die Sinnkrise des Menschen, wodurch er einen Bezug zur Moderne herstellt. Indem Inultus Flavia Modell steht, sucht er ein Opfer für sein Volk und will Flavia, für die Kunst die einzige Gottheit darstellt, zum Glauben bringen. Je mehr sich Inultus Jesus hingibt und sich mit ihm personifiziert, desto unzufriedener wird Flavia, die ein Wunderwerk der Kunst schaffen will, was ihr aber nicht gelingt. Sie ersticht schließlich Inultus und schafft ein unsterbliches Werk, für das sie gefeiert wird. Doch während das Opfer für Inultus Erfüllung ist, stillt der Ruhm nicht Flavias Seele, woraufhin sie schließlich Selbstmord begeht. Anschließend widmete sich Jürgens dem Roman „Severins Gang in die Finsternis“ von Paul Leppin, der im zeitgenössischen Prag spielt. Der 23-jährige Severin arbeitet als Büroangestellter und erlebt einen einsamen Arbeitsalltag, der ihn nicht erfüllt. Er ist ein Suchender, sucht nach Erfüllung und dem Sinn des Daseins und ist zugleich ein rastloser Mensch, der abends und nachts durch die Straßen Prags streift. Um seinen geistigen Durst zu stillen, geht er kurze sexuelle Beziehungen zu Frauen ein. In der „Spinne“ beginnt er eine Affäre mit Mylada, die ihn zunächst verlässt, wodurch seine Welt zusammenbricht. Er beschließt, die „Spinne“ samt Mylada und sich selbst mit einer Handgranate in die Luft zu springen, gewinnt Mylada in einer Tombola allerdings zurück, weshalb seine Tat unvollendet bleibt. In beiden literarischen Texten, dem Zeyers und dem Leppins, stehen die Fragen nach dem Sinn des Lebens und der Präsenz einer spirituellen Dimension im Vordergrund. Flavia handelt in dem Augenblick, in dem sie ihre Leere begriffen hat; Inultus nimmt den Märtyrertod in Kauf, weil er an den Wert des Opfers glaubt und Severin kann nicht mehr glauben und handeln, woraufhin er sich in der Stadt verliert, die ihm keinen Halt mehr bietet.

Foto: Dr. Siebers am Rednerpult
Dr. Winfried Siebers spürte dem ‚Heimweh nach dem Gegenwärtigen‘ nach

Anschließend referierte Dr. Winfried Siebers (Berlin) über „Heimweh nach dem Gegenwärtigen. Alice Rühle-Gerstels Prag-Roman ‚Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit‘“. Dabei stellte er zunächst die Autorin und anschließend ihren Roman vor. Alice Rühle-Gerstel stammte aus einer großbürgerlichen Prager Familie und wuchs zweisprachig, deutsch und tschechisch, auf. 1917 begann sie ein Studium der Germanistik und Philosophie in Prag, das sie in München fortsetzte. Im Zuge dessen beschäftigte sie sich auch mit marxistischem und sozialistischem Gedankengut. Nach ihrer Heirat mit Otto Rühle zog sie 1921 in die Nähe von Dresden, wo sie aktiv in der Erwachsenenbildung war und Artikel für Zeitschriften schrieb. 1932 emigrierte sie mit ihrem Mann nach Prag und wurde dort Mitarbeiterin des „Prager Tageblatts”. Als ihr Mann 1936 eine Stelle als Regierungsberater in Mexico City antrat, folgte sie ihm ein Jahr später, arbeitete zunächst als Übersetzerin und schrieb hier ihren Prag-Roman. Dieser besticht nicht nur durch seine reichhaltigen biografischen, topografischen und zeithistorischen Details, sondern auch durch seine Distanz sowohl zum Nationalsozialismus als auch zu den stalinistischen Säuberungen der 1930er Jahre. Im Mittelpunkt steht Hanna, die vor den Nationalsozialisten geflohen ist, nach 17 Jahren in Deutschland wieder in ihrer Heimatstadt Prag lebt und dort für die Zeitschrift „Svoboda“ arbeitet. Eine politische Intrige bewirkt schließlich ihre Ausweisung aus dem Exilland. Siebers verdeutlichte die drei Bedeutungsebenen des Umbruchs, der das Leitmotiv des Romans darstellt. Erstens ist damit der technische Umbruch in einer Zeitungsredaktion gemeint, zweitens der politische Umbruch und drittens der persönliche Umbruch im Leben der Protagonistin Hanna. Sie muss erkennen, dass für sie weder Vergangenheit noch Gegenwart existiert und sie nur noch auf die Zukunft hoffen kann. Das Prag ihrer Kindheit und Jugend existiert nicht mehr. Die Stadt ist ihr fremd geworden und stellt keine Heimat mehr für sie dar. Zugleich ist Prag aber auch nicht der erhoffte Flucht- und Freiraum. Vielmehr schränkt die Moldaumetropole sie ein, beengt sie und wirkt begrenzend. Hanna bleibt nur, die alte Welt der Kindheit und die bedrückende politische Gegenwart hinter sich zu lassen und sich in eine – hoffentlich bessere – Zukunft zu begeben.

Zum Abschluss der Tagung präsentierte Dr. Zuzana Jürgens (Adalbert Stifter Verein) das „Handbuch der deutschen Literatur Prags und der böhmischen Länder“, das der Adalbert Stifter Verein (Peter Becher) in Kooperation mit der Arbeitsstelle für deutsch-mährische Literatur in Olomouc (Olmütz), dem Institut für germanische Studien der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität Prag (Manfred Weinberg), der Kurt Krolop Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur in Prag (Jörg Krappmann), der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Steffen Höhne) herausgegeben hat. Das Handbuch beinhaltet eine Geschichte der böhmischen Länder und ihrer literarischen Institutionen vom 18. Jahrhundert bis fast in die unmittelbare Gegenwart, liefert Informationen über Epochen und Gattungen, Themen und Motive und bietet am Ende ein Verzeichnis der Lebensdaten ausgewählter Autoren und Autorinnen. Neben den Herausgebern hat eine Vielzahl an Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus Deutschland, Tschechien und Österreich an den einzelnen Texten mitgewirkt. Im nächsten Jahr plant der Adalbert Stifter Verein ein Kolloquium mit dem Titel „Handbuch revisited“, um darüber zu diskutieren, welche weiteren Themen und Aspekte, darunter etwa Transkulturalität, interkulturelle Beziehungen und Verflechtungen, künftig noch untersucht werden können.

Foto: Prof. Dr. Axel Walter am Rednerpult
Prof. Dr. Axel Walter, Eutiner Landesbibliothek, führte durch die Konferenz

In der Abschlussdiskussion fasste Prof. Dr. Axel Walter die Ergebnisse der Vorträge zusammen. Die Tagung hat ihm zufolge deutlich gemacht, dass es zwischen den Kulturen in der Literatur der Prager Moderne einerseits zwar viele Anknüpfungspunkte und Austauschprozesse, andererseits aber auch viele bewusste und unbewusste Grenzziehungen gab. Prag als (Zwischen-)Raum, als räumliche Signatur, als imaginäre fiktionale bzw. fiktive Topografie, die mit der realen Topografie abgeglichen war, war das, was alles verbunden hat und in unterschiedlichen Formen und Funktionen in den Texten und Autobiografien präsent war. Ein Sammelband mit Aufsätzen zu den einzelnen Vorträgen ist geplant.

Die Tagung ist als Aufzeichnung auf dem Youtube-Kanal der Kulturstiftung abrufbar: www.bit.ly/kulturstiftungvideo