In seiner neuen Studie „Stiefkinder des Wirtschaftswunders? Die deutschen Ostvertriebenen und die Politik des Lastenausgleichs (1952-1975)“ widmet sich Prof. Dr. Manfred Kittel einem lange Zeit in Vergessenheit geratenen Thema. Mit der neu aufkommenden Debatte um Entschädigungen im Zuge der Corona-Krise ist auch der Begriff ‚Lastenausgleich‘ jedoch wieder aktuell geworden.
Mit seinem Debattenbeitrag liefert Prof. Kittel eine wissenschaftliche Einordnung der historischen Bedeutung dieser Entschädigungs- und Eingliederungsleistung der jungen Bundesrepublik. In einer Online-Buchpräsentation und anschließenden Diskussion stellte Prof. Dr. Manfred Kittel auf Einladung der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen nun am 19. November seine Studie im Live-Stream vor.
In seinem Grußwort zur Online-Buchvorstellung sprach Reinfried Vogler, Vorstandsvorsitzender der Kulturstiftung und Zeitzeuge des Lastenausgleichs, von der großen psychologischen Bedeutung des 1952 in Kraft getretenen Gesetzes. Der Lastenausgleich sei zwar heute in der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt, habe aber seinerzeit einen wichtigen Beitrag zur Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen geleistet. Dabei habe die psychologische Wirkung den materiellen Wert weit übertroffen, sagte er.
Entschädigung und psychologische Wirkung
In seinem Eingangsreferat wies danach Prof. Kittel auf die Größenordnung des Lastenausgleichs hin, die anfangs vergleichsweise einem Fünftel des Bundeshaushalts gleich kam. Dabei war der Lastenausgleichsfonds jedoch kein Teil des Bundesetats. Die ausgeschütteten Mittel seien jedoch nicht nur Vertriebenen zugutegekommen, sagte der Historiker, ein Drittel der Gelder sei an Kriegs- und Währungsgeschädigte geflossen. Trotz dieser großen Hilfsleistung habe es immer Rufe nach Aufstockung der Leistungen gegeben. Nachdrücklich widersprach Prof. Kittel jedoch der Interpretation, er habe in seinem Buch eine vollständige Entschädigung der Vertriebenen als realistischen Wunsch beschrieben. Statt der schließlich nach 28 Novellierungen des Gesetzes erreichten 6,5 Prozent Entschädigung bei größeren Verlusten seien aber die vom Bund der Vertriebenen (BdV) lange geforderten 20 Prozent mitten im Wirtschaftswunder möglich gewesen.
Hartmut Koschyk, Parlamentarischer Staatssekretär a.D. und ehemaliger Bundesbeauftragter für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, erklärte in seinem Referat zur Buchvorstellung, der „Mythos Lastenausgleich“ habe lange einer genaueren und wissenschaftlichen Betrachtung insbesondere bezüglich seiner Entwicklung bedurft. Auch er betonte die politisch und sozial befriedende Wirkung des Lastenausgleichs, die besonders zur Eingliederung der immer als Minderheit aufgefassten Vertriebenen beigetragen habe. Hartmut Koschyk dankte Prof. Kittel für seine Arbeit, die bereits jetzt ihre Einordnung als zukünftiges Standardwerk zum Thema erkennen lasse und verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, diese Studie möge als Anstoß für eine vertiefende Beschäftigung mit dem Lastenausgleich dienen.
In der anschließenden Diskussion, die von Sven Felix Kellerhoff, dem leitenden Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte bei der WELT, moderiert wurde, gingen Prof. Kittel, Reinfried Vogler und Hartmut Koschyk auf die besonderen Umstände der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft ein. Das ursprüngliche Soforthilfegesetz, der Lastenausgleich und die politisch betriebenen Integrationsbemühungen hätten in besonderem Maße dazu beigetragen, dass eine Radikalisierung der Vertriebenen ausblieb, sagten sie übereinstimmend. Reinfried Vogler betonte zudem das aus der Not geborene Gemeinschaftsgefühl. Hartmut Koschyk fasste zusammen, als Vertriebener habe man sich nach den ersten harten Jahren zwar manchmal als Stiefkind gefühlt, aber eines, das es trotz allem in der Gesellschaft geschafft habe.
Vermögensabgaben zur Entlastung von Corona-Betroffenen stünden historisch gesehen dem Lastenausgleich aber so gegenüber, als würde man Äpfel mit Kürbissen vergleichen, erklärte Prof. Kittel.
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Den Diskussionsbeitrag von Hartmut Koschyk, MdB a.D., finden Sie als pdf auf den Seiten der Kulturstiftung hier: https://kulturstiftung.org/wp-content/uploads/Hartmut-Koschyk-Beitrag-Buchvorstellung-Lastenausgleich.pdf
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Die Aufzeichnung des Live-Streams der Buchvorstellung und Diskussion finden Sie auf dem Youtube-Kanal der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen unter: www.bit.ly/kulturstiftungvideo